Historische Bedeutung der Bildung, oder: Bildung ./. Qualifikation

Historische Bedeutung der Bildung, oder: Bildung vs. Qualifikation

Seit geraumer Zeit verschwimmen die Begriffe Bildung und Ausbildung (Qualifikation) immer mehr ineinander. Umso notwendiger ist es, u.a. sich auch der historischen Bedeutung der beiden Begriffe zu erinnern und sich die Ergebnisse der langen Geschichte der Pädagogik zu vergegenwärtigen:

Man sagt, Qualifikation und Sozialisation seien die Hauptaufgaben, die sich heute pädagogisch stellen. Aber jene Aufgabenstellung war ja die neue Intention des 18. Jahrhunderts: „Jeden auf die eigenen Füße zu stellen durch Ausbildung, auf das er nicht mehr den öffentlichen Kassen zur Last fiele, sondern helfen könne, die Kassen des Staates zu füllen.“

Dazu gesellte sich die Einweisung in eine Gesellschaft, ihrer Normen und Lebensformen, letztlich die Herstellung von „Massenloyalität“. So entdeckte man Sozialisation als ein Grundgeschehen, das in jeder Gesellschaft ihre Formation, Reproduktion und Legitimation gewährleisten und die Sozialität eines jeden sichern sollte.

So unerlässlich Qualifikation und Sozialisation sind, wir laufen doch Gefahr, den anderen pädagogischen Gedanken, den wir der Neuzeit verdanken, aus dem Auge zu verlieren, nämlich: „Jeden Menschen zur Selbstständigkeit im Denken freizugeben“.

Ergebnis einer langen geschichtlichen Diskussion und harter politischer Auseinandersetzungen ist der moderne pädagogische Gedanke, „jeden Menschen zur Selbstständigkeit im Denken freizugeben“.

Man darf NICHT sagen, zum selbst ständigen Denken! Denken kann der einzelne nicht wollen; man mag wünschen oder nicht, dass wir uns Gedanken „machen“, dass wir denken wollen könnten. Es ist nicht so.

Ich bin aber derjenige, der sich dem Denken überläßt und Antwort gibt. Ich verantworte sie daher, aber gerade nicht als das, was ich gemacht oder bestimmt habe. Der Einzelne muss diese mögliche Identität in der Differenz von Ich und Denken ebenso erfahren, wie Bildung ihn immer wieder zu einer solchen Identifikation zu veranlassen sucht.

„Ich selbst“ bin nicht „das Denken“. „Ich“ kommt erst durch Reflexion und Negation, also im Denken und durch Denken zustande, als „Nicht-Welt“, wie W. von Humboldt sagte.

Denken ist nicht „mein Vermögen“, sondern jenes, in das ich mich hineinfinden kann, das mich aufnimmt. Nur zu oft ereignet sich dieses „Sesam, öffne dich“ nicht; es bleibt mir vieles dunkel, ich verstehe es nicht, es ist mir „zu hoch“.

Denken in Einsicht und Erkenntnis, in Wort, Werk und Tat kommt nur zustande, wenn es unter einem umfassenden Interpretationshorizont steht, unter einem weiten Gedankenkreis. Seit alters gewährt die Sprache diesen Umkreis; in ihr „lernen“ wir denken, in ihr hat sich Denken immer schon ausgesprochen. Die Dominanz der Interpretationshorizonte ist unser modernes Problem.

Die Interpretationshorizonte haben sich in den Jahrhunderten „sedimentiert“ und konfirmiert. Ihre Institutionalisierung gewann außerordentliche Macht; diese teilt sich den Anhängern mit; sie gewährt Prestige, Geld und hierarchischen „Aufstieg“.

So werden aus jenen Interpretationshorizonten „-ismen“, die sich selbst ihre „Unfehlbarkeit“, ihre absolute Wahrheit mit allen Mitteln zu sichern suchen. Sie schließen einander aus. Diese Zusammenhänge verweisen uns wieder an Bildung. Mit ihr sollte die Überwindung der Verhaftung an dominante Interpretationshorizonte gemeint sein - die Überwindung durch eine Universalität, die um die Mannigfaltigkeit der interpretatorischen Gedanklichkeit und ihren „Weltaufschluss“ weiß.

Wir haben ein Recht auf Bildung, sicher, aber die Bildung ist keine Ware. So kann es keine „Bildungsbanken“ geben, wohl aber sind „Bildungsstätten“ zu fordern, in denen es den einzelnen ermöglicht wird, sich auf den Weg der Bildung zu begeben, der zu ihr selbst führt. Jetzt handelt es sich nicht um „Hab und Gut“, sondern um meinen Einstand und Beistand für all jenes, das ich nicht ohne weiteres anderen überlassen werde.

Heute gewinnt diese Verantwortlichkeit ein außerordentliches Ausmaß, das uns wiederum zeigt, wie abwegig es wäre, es bei Qualifikation seine Bewendung haben zu lassen. Heute sind wir auf eine kosmische Verantwortung in Anspruch genommen (Hans Jonas).

Die Ineinssetzung von Bildung und Ausbildung ist international bekannt und anerkannt. Es gibt dann keine „Ungebildeten“ mehr. Alle werden zu „Spezialisten“. Bildung dem entgegen sollte jedem, soweit er dessen fähig werden kann, Einsicht und Umsicht in eine Welt ermöglichen, in der er lebt, die er mitgestaltet, für die er verantwortlich wird.

Bildung muss von Beruf und Ausbildung unterschieden bleiben; wenn ich meinen Beruf nicht mehr oder einen anderen ausübe, fällt mir nicht die Bildung aus den Händen oder von mir ab. Sie stellt vielmehr das Kontinuum meiner Identität dar. Sinn der Bildung ist nicht nur Befreiung aus dem Kordon des zeitgenössischen Interpretationshorizontes, sondern die Teilhabe und Teilnahme an der geschichtlichen erreichten Gedanklichkeit in ihrer Befragbarkeit (Recht auf Partizipation).

Der beste Weg, die Bildung zu umgehen, ist die Elitebildung. Je nach dem, was sich jemanden mehr oder weniger leicht erschließt (Begabung), fördert die Schule, fördert die Öffentlichkeit dieses „Können“. Sie sind bereit, dem Betreffenden vieles andere zu erlassen bzw. zur Nebensache werden zu lassen.

Der Gedanke der selbstkritischen Relativität kann nicht aufkommen, da der Betreffende um so vieles gar nicht weiß. Streng genommen müssen wir von Eliteausbildung sprechen, von der Ausbildung eines Spezialisten. Leistung erscheint als das „Schwerere“, „Anstrengendere“. In Wahrheit ist es umgekehrt. Bildung ist mühsam und unabschliesbar; mit einem Satz: Bildung ist nicht „zu leisten“.

Das wertet nicht die Leistung ab. Die gesamte Kritik an Arbeit und Leistung aber verdanken wir der Bildung. Unser Alltagsverständnis kennt weiterhin nur Arbeit und Leistung. Die immanente Kritik kann immer nur Effizienz, Effektivität und Kommerzialität beurteilen bzw. ihre Erhöhung fordern.

Niemand kann sich also seine Bildung als Leistung anrechnen. Da ist nichts zu wollen und nichts zu machen.

Wohl aber kann jeder mit der ihm zuteil werdenden Gedanklichkeit den so gewiesenen Weg weiter beschreiten und dem entsprechend zu Distanz und Respekt, zu Besonnenheit und Gemessenheit gelangen. Diesen Weg einzuhalten ist das Schwere an der Bildung. Dass am Weg der Verführer viele sind, haben alle Zeiten gewusst und beim Namen genannt.

Bildung bedeutet Widerstand gegen die Flucht vor dem Denken; auf ihr befinden wir uns alle von früh auf; ihr Einhalt zu gebieten, macht das Geschehen der Bildung aus. Die „Gefährlichkeit“ des Denkens besteht ja u.a. darin, uns die liebgewordenen, „heimatlichen“ Vorstellungen und Meinungen zu rauben, zu stören, zu zerstören.

So z.B. die Tradition, die Religion, die einfache Gläubigkeit, die fraglose Gewissheit.

Bildung sollte in diesem Zusammenhang das Maß der Selbstkritik des Denken ausmachen.

Die genannte „Fluchtbewegung“ zum Selbstbewußtsein zu erheben, ihre Ausmaße auf ihre Angemessenheit und Berechtigung hin zu prüfen und dem entsprechend freizugeben oder zu begrenzen — das wäre das Geschehen der Bildung.

In der modernen Diskussion um Bildung spielte merkwürdigerweise ein bestimmter Gedanke keine Rolle, obwohl dieser ihre Geschichte von Anfang an begleitet, ja trägt: „in der Welt zu sein im Wissen um Sein und Schein, um das, was es in Wahrheit mit ihr auf sich hat“.

Durch den ständigen Rückzug von Bildung auf „mich“ und „mein Glück“ ist dieser tiefe Sinn der Bildung durchkreuzt worden. Bildung sollte eine Umwandlung der anfänglichen „Denkungsart“, der primären Selbstinterpretation der Menschen erreichen, in der der einzelne von sich absehen lernt, um so allererst das, was ist und vor sich geht, zu erkennen und ihm gerecht werden zu können.

Fragen wir: Wie kommt es zur Bildung? Zu einem „Selbstbewußtsein“ der Sozialisation? Zu einem Interpretationshorizont, der Beurteilen und Ermessen ermöglicht und hervorruft?

Hier haben wir Ursprung und Grund: diese Suche nach Wahrheit, die die selbstlose Verantwortung von Wort, Werk und Tat mit sich bringt. Nur wo diese Sachlichkeit erreicht wird, kann sich Bildung einstellen. Dieses Suchen muss allerdings wach gehalten werden. Eine Begründung von Schule wäre darin zu finden.

Was kam Neues mit uns Menschen in die Welt? In der Praxis der „Selbstverwirklichung“ vollzog sich schon immer alles Leben.

Mit uns Menschen kam die Gedanklichkeit in die Welt, die Thoeria, das Erkennen, das Wissen. Was Wunder, dass zunächst und zumeist jene geläufige „Selbstverwirklichung“ ihre Theorie fand.

Jenes Neue hatte es schwer, gegenüber dem natürliche Zirkel der „Selbstverwirklichung“ zum Vorschein zu kommen. Trotzdem gelang es, auf Gedanken zu kommen, die jene Natürlichkeit hinter sich ließen:

Der Gedanke des Kosmos, des Friedens, des Wahren, des Guten und Schönen, der „Möglichkeit“ gegenüber dem Bestehenden, dem Wirkenden, dem Geschehenden

Damit auch der „Ermöglichung“ und der Konstruierbarkeit des Seienden, der Gedanke der Freigabe und das Selbstbewußtsein des Schaffens, der Gedanke der Selbstlosigkeit.

Ihrer gewürdigt zu werden, an ihnen teilzuhaben - das sollte Bildung besagen, das sollte Bildung umschließen.

Beim Durchdenken der vorgetragenen Pädagogik wird deutlich, dass sie unserem alltäglichen Selbstverständnis zuwiderläuft und ihr bei dem Versuch der Realisation Schwierigkeiten erwachsen werden.

Wir stoßen damit auf eine Frage, die seit alters die Menschheit bewegt: die Frage nach dem Bösen, Unechten, Unrechten.

Die Lehre von der menschlichen Verkehrtheit versucht seit langem, dieses Feld in seinen Konturen und Strukturen zu erhellen. Die Grundthese lautet: Die Menschen leben primär - zunächst und zumeist - in der Verkehrung, der Entfremdung oder dem Entzug der Menschlichkeit oder auch in der Abwendung von ihr.

Die Lehre von der menschlichen Verkehrtheit stellt das pädagogische Problem mit aller Schärfe: Wenn Bildung den Weg zur Menschlichkeit darstellt, worin besteht diese und wie muss der Weg beschaffen sein?

Wenn die Analysen der Verkehrung zu Recht bestehen, dann bedarf es eines Geschehens, das die Verkehrtheit überwindet und sie so früh wie möglich in den Blick bringt. Und wenn es sich um eine verkehrende Selbst- und Weltinterpretation handelt, dann muss auch Bildung im Gedanklichen ihren Schwerpunkt haben.

Bildung in diesem Sinne wird damit so außerordentlich schwierig, in der Spannung zwischen Selbstverantwortung und institutioneller Anleitung. Durch diese „Mittelbarkeit“ werden viele „herkömmliche Maßnahmen“ unzulässig.

In neuer Weise jene Verkehrtheit zu überwinden, hat sich nur zu oft als Sisyphos-Arbeit erwiesen.


Thoedor Ballauff, Auszug aus dem Aufsatz „über die Unerlässlichkeit der Bildung“, Veröffentlicht in Deutsche Gegenwartspädagogik (1993), Hrsg.: Michele Borrelli